Das Hohe Schloss ist der Name der Festung, die auf dem Schlossberg der Stadt Lwiw im 13. Jahrhundert unter dem Fürsten Lew Danylowytsch, dem Sohn des bedeutendsten Fürsten von Galizien-Wolhynien Danylo Halyckyj, erbaut wurde und als „Keimzelle“ der Stadt Lwiw gilt. Damals war die Festung hölzern. Um das Jahr 1350 ließ der polnische König Kasimir der Große eine große steinerne Festung mit vier Türmen erbauen, deren Ruinen bis heute erhalten sind und auch wegen des Panoramas über die Stadt zum Pflichtprogramm eines Lwiw-Aufenthalts gehören.

Ilko Lemko.
Lwiw. Die Stadt der Liebe
Der Weg nach links hinter dem Schlosstor zog sich steil nach oben. Der Anstieg war so steil, dass es schien, als ob die Pferde gleich erschöpft umfallen und die Kutsche rückwärts hinunterrollen würde. Endlich bewältigten die mächtigen Pferde nun den letzten steilen Teil des Anstiegs und fuhren über die Brücke zum zweiten Schlosstor. […] Von oben gesehen war es fast unmöglich zu glauben, dass die Pferde den Weg auf diese Felswand bewältigt hatten. Wo auf der Welt würde man einen Feind finden, der fähig wäre, diese Festung zu erobern? Das Hohe Schloss, das auf einem interessant geformten Berg steht, war seinen Umrissen nach einer Laute ähnlich. Schon seit uralten Zeiten war das Schloss ein sicherer Wächter, ein Schutzschild, der zusammen mit seiner Besatzung, den geladenen Kanonen und Gewehren die Stadt bewachte. Das alte prächtige, düstere Schloss, das bei Wind laut stöhnt, blickt mit Stolz und gleichzeitig mit der Liebe eines fürsorglichen Wächters und der Furchtlosigkeit eines Ritters, der verantwortlich für die Sicherheit und das Glück einer schönen Frau ist, seit hunderten von Jahren auf die stille Stadt an seinem Fuß, auf deren Leben und Sorgen, herunter. Im Tal konnte man die unglaublich schöne, prachtvolle Landschaft von Lwiw sehen. Die Stadt lag in einer weiten, tiefen Grube, bequem, wie ein Hahn im Korb. Von Wäldern bedeckte Abhänge und sieben Hügel umgaben die Stadt wie riesige Wände. Sie haben der Stadt gerade so viel Platz gelassen, wie sie für ihre Entwicklung brauchte. In den Sonnenstrahlen spielten die Spitzen des Rathauses, der Kathedrale, des französischen Klosters, der Türme des Dominikanerklosters und der Marienkirche, die sich am Fuß des Berges befanden. Weiter im Westen, hinter den städtischen Befestigungsanlagen im sumpfigen Tal leuchtete der Fluss Poltwa. Hinter dem Kloster des heiligen Stanislaws ist er den Grundsteinen der städtischen Mauern gefolgt und rechts jenseits des Berges Budelnycya verschwunden, wo er seine Gewässer weiter bis zu der Ostsee tragen wird.
Aus dem Ukrainischen von Natalja Palamar
Lemko, Ilko: Lwiw. Misto kochannja [Lwiw. Stadt der Liebe]. Apriori: Lwiw 2013, S. 189 f.

Jurij Wynnytschuk.
Lwiwer Legenden
Es war damals, als das Schloss noch stand, aber niemand bewohnte es. Es herrschten Dunkelheit und Verfall.
Eine arme Frau ging eines Tages mit ihrem Sohn zum Hohen Schloss, Heilkräuter zu sammeln. Damals war der Berg ganz mit Wäldern bedeckt, dort wuchsen allerlei Gräser in Hülle und Fülle.
So streiften sie hoch bis zu den Schlossruinen. Es war gerade der zehnte Mai, das Fest von Simeon Zelotes, als die Schätze in der Sonne rein werden.
Plötzlich hörte die Frau ein schweres Knarren, blickte auf, – das uralte verrostete Tor ging auf einmal weit auf. Der Hof dahinter war voller Gold.
Die Frau blieb wie erstarrt stehen. Da hörte sie eine Stimme aus den Baumwipfeln: „Nimm, es ist höchste Zeit. Ein Augenblick – und es wird zu spät sein“.
Die Frau und der Kleine stürzten in den Hof. Sie schaufelte die Schürze voll Gold, – und flugs zurück. Aber sobald sie hinausgerannt war, bemerkte die Frau, dass sie den Jungen vergessen hatte. Sie blickte sich um und sah, wie er mit den Edelsteinen spielte. Sie eilte zurück, aber in diesem Augenblick schloss das Tor wieder, und wie lange sie auch daran pochte, wie sie auch schluchzte und flehte, es blieb verschlossen.
Sie ging zurück nach Hause, schüttete das Gold in eine Kiste, doch in Sorge um ihren Sohn fasste sie es das ganze Jahr nicht an. Sie konnte kaum erwarten, bis eben der gleiche Tag im nächsten Jahr kam und begab sich dann zum Hohen Schloss.
Sie stand vor dem Tor und wartete, um in den Hof hineinspringen zu können um ihren Sohn, sei er auch tot, zu nehmen und anständig zu begraben. Da, als die Sonne schon ganz oben stand, knarrte das Tor und ging weit auf. Die Frau blickte in den Hof und konnte ihren Augen kaum glauben. Auf dem Haufen Gold und Edelsteinen saß ihr Junge und lächelte sie fröhlich an. Es mangelte ihm an nichts, ganz im Gegenteil, er war in diesem Jahr ein bisschen gewachsen und sein zuvor schmächtiges Gesicht war rot und pausbäckig geworden. Sie nahm ihn in die Arme und lief flugs zurück. Und gerade zur rechten Zeit, weil das Tor schon wieder zuging und das Schloss so finster wie vorher wurde.
„Was hast du denn gegessen?“, fragte die Frau den Kleinen, indem sie ihn abtastete und von allen Seiten betrachtete.
„Die Weiße Frau gab mir zu essen. Sie hat mich ins Schloss genommen und ich spielte dort auch mit anderen Kindern, nur dass sie merkwürdig angekleidet waren und Kronen auf den Köpfen trugen. So lebte ich die ganze Zeit im Schloss, und heute hat mich die Weiße Frau an der Hand genommen und in den Hof hinausgeführt, damit ich auf meine Mutter warte“.
Aus dem Ukrainischen von Natalja Palamar
Wynnytschuk, Jurij: Lehendy Lwowa [Lwiwer Legenden].
Piramida: Lwiw 2002, S. 125 f.