Das jüdische Stadtviertel entstand aus dem mittelalterlichen Ghetto in Lwiw. Die Juden siedelten 1352 neben dem Lwiwer Schlossberg und bildeten eine Vorstadt, die bald den Namen Krakauer Vorstadt bekam. Noch im selben Jahrhundert wurde ein Judenviertel innerhalb der Stadt gebaut. Die Lwiwer Juden hatten ihre Synagoge und andere religiöse und gemeinschaftliche Institutionen.
Majer Bałaban.
Was sich in der Judenstraße ereignete
Ungefähr in der Mitte überschneidet sich die Ruska-Straße mit der Blacharska-Straße, die sich nach Norden bis zur Dominikanerkirche und dem armenischen Stadtviertel ausstreckt und nach Süden bis zum Bernhardinerkloster. Ihr südlicher Teil, rechts vom Rynok-Platz, ist die alte Juden-Straße. So hieß sie in den Zeiten Österreich-Ungarns, bis man im Jahre 1871 aufgrund eines merkwürdigen Missverständnisses und Empfindlichkeit die Benennung durch eine ausdruckslose und historisch falsche änderte. Seitdem hieß die Straße Blacharska-Straße.
[…] Mit diesem Tor endete das Stadtghetto und nur durch dieses Tor konnte man die Judenstraße erreichen. Wie auch in allen anderen Städten wurde das Tor für die Nacht mit zwei Riegeln gesperrt: von der städtischen und der jüdischen Seite. In jenen Zeiten war die Judenstraße voll mit Menschen, die, nachdem sie ihr Tagwerk als Händler erledigt hatten, in einem engen und schwülen, aber vor jeglichen Angriffen, Raub und Pogrom sicheren Ghetto lebten.
Aus dem Ukrainischen von Olena Pylyptschuk
Bałaban, Majer: „Was sich in der Judenstraße ereignete“.
In: Nezalezhnyj kulturolohitschnyj tschasopys „Ji“. Nr 51. Lwiw 2008, S. 122.
Hermann Blumenthal.
Der Weg der Jugend
Die Gassen und Gässchen in der Nähe der alten Lemberger Synagoge bilden eine kleine Stadt für sich. Hier scheint die Großstadt seit einem Jahrhundert in der Entwicklung stehengeblieben zu sein.
Nur selten kommt die Sonne in diese engen, winkeligen Gassen.
Die Häuser sind alt und die Höfe schmutzig und düster. Und jeder Hof ist eine Straße für sich mit verfallenen Häuserteilen und gebückten, wunderlichen Giebeln, die sich im Dunkeln wie kauernde Ungeheuer ausnehmen. Man wagt es kaum aufrecht zu gehen, aus Furcht, es könnten die alten Mauern jeden Augenblick zusammenstürzen…
Diese Häuser werden vom Dachboden bis in die Kellerräume von armen jüdischen Familien bewohnt.
Alle leben sie vom Handel.
Die kleinen, dunklen Läden sind mit allen möglichen Gegenständen angefüllt. Da sieht man Möbel und Hausgeräte, Bücher und Kinderspielzeug. Hüte und Schuhe in allen Formen, alte Kleider, Livreen und abgediente Uniformen in jeder Größe und Farbe liegen und hängen bunt durcheinander.
Was in der Stadt morsch und unbrauchbar geworden ist, wird hierhergebracht, und kein Ding ist so schlecht, dass es hier nicht seinen Käufer findet.
Auf der Straße ist ein ständiger Jahrmarkt. Ein Stand reiht sich an den anderen. Jüdinnen mit falschen Scheiteln oder schmutzigen Tüchern auf den Köpfen, alte und frühgealterte, verkaufen Obst, Gemüse und Backwaren zu den billigsten Preisen.
Neben den Hökerinnen sitzen die Flickschuster über ihre Arbeit gebückt. Daneben sieht man einen Buchhändler mit alten Zeitschriften, Gebetbüchern und Hintertreppenromanen.
Zwischen den Buden tummelt sich ein Heer von Käufern und Maklern. Juden mit verstaubten, schmutzigen Gesichtern drängen sich durch die Menge. Sie tragen alte fadenscheinige Zylinder auf den Köpfen und zerfetzte Schirme in den Händen … Krüppel und Bettler suchen lautjammernd im Gewühl vorwärts zu kommen.
An den Straßenecken stehen Schuhputzer, Lastträger und bettelnde Judenjungen in zerrissenen Kaftanen, mit bleichen, hungrigen Gesichtern.
Tag für Tag tobt hier der Kampf um das bisschen Leben. Wie klein ist der Erlös dieser Leute, die das Schicksal auf dieses Stückchen Erde zusammengetragen hat. Sie plagen sich, um nur den Hunger zu stillen. Wenige Kreuzer Verdienst machen sie glücklich und spornen ihre Tatkraft auf’s Neue an.
Blumenthal, Hermann: Der Weg der Jugend; Knabenalter.
Marquard & Co.: Berlin 1908, S. 47 ff.