Das sowjetische Lwiw (1945–1991)

In der Nachkriegszeit entwickelte sich Lwiw zu einem Industriezentrum. Es wurden zahlreiche Großbetriebe gebaut, für die man zusätzliche Arbeitskräfte brauchte. Die Einwohnerzahl wuchs auf Kosten der Bauern aus der Umgebung, was zur Folge hatte, dass Lwiw zur größten ukrainischsprachigen Stadt und zugleich zum Zentrum der ukrainischen Nationalbewegung wurde. Es wurden viele neue Hochschulen gegründet. 1971 entstand in Lwiw das Westukrainische wissenschaftliche Zentrum der Akademie der Wissenschaften der Ukrainischen Sowjetischen Sozialistischen Republik. Die ukrainische griechisch-katholische Kirche wurde verboten und der russisch-orthodoxen Kirche angeschlossen.

Busse im Fabrikhof. Unbekannter Autor. Foto, um 1960

In der Tauwetterperiode unter Chruschtschow bildeten sich in Lwiw zahlreiche Befreiungsorganisationen, Geheimgruppen und Parteien, deren Mitglieder jedoch von der Sowjetmacht verfolgt, mit Gefängnis bestraft und erschossen wurden. 1976 wurde von den ukrainischen Dissidenten die ukrainische Helsinki-Gruppe gebildet, die 1988 während einer Massenprotestkundgebung in Lwiw zu einer Vereinigung und später zur ersten oppositionellen ukrainischen Partei wurde. Mit Gorbatschows Perestrojka wurde die ukrainische Nationalbewegung immer stärker. Lwiw wurde wieder zur Speerspitze der ukrainischen Nationalbewegung. Trotz Verfolgung und Repression wurden geheime Zeitungen gedruckt und oppositionelle Bürgervereine gebildet. Die 1989 von demokratischen Kräften gegründete ukrainische Partei „Volksbewegung der Ukraine“ gewann die Wahlen im Lwiwer Gebiet, wonach die nationale Befreiungsbewegung nach Kyjiw verlegt wurde, wo 1991 die Unabhängigkeit der Ukraine erklärt wurde.


Wasyl Symonenko.
Ukrainischer Löwe

Gedanken sprießen, treiben aus in Worten,
Ihre Triebe flüstern in der Tage Gewirr –
Unter Löwen weile ich, schon eine ganze Woche
Nicht umsonst nennt diese Stadt Löwenburg sich.

Es gibt Städte, die wie Verräter, wie Bastarde aufstreben
Es gibt Löwen, die schnurren wie Katzen zahm
Sie lecken am Gitter, dem Wahnsinn ergeben
Und stellen stolz ihre Blindheit zur Schau.

Doch darüber will ich jetzt nicht nachsinnen,
Denn ein klein wenig Glück war mir heute gewiss.
Ich traf Adam Mickiewicz, sah ihm in die Augen,
Habe Krywonis gesehen und Franko begrüßt.

Altehrwürdiges Lwiw! Du Stadt meiner Träume
Meiner Freude Epizentrum, meiner Hoff nungen Licht!
Meine Seele bebt, ich habe dich verstanden –
Du Stadt der Löwen, verstehst du denn auch mich?

Als Sohn kam ich zu dir, voll von Vertrauen
Aus den Steppen, wo Slawuta Legenden spinnt.
Dass aus deinem ewigen Herzen des Löwen
Nur ein Tröpfchen Kraft in mein Innerstes rinnt.

Aus dem Ukrainischen von Alois Woldan

Symonenko, Wasyl: „Ukrainischer Löwe“. In: Woldan, Alois (Hrsg.): Europa erlesen: Lemberg.
Wieser Verlag: Klagenfurt 2008, S. 222-223.


Myroslaw Lasaruk.
Schwere Aussteuer des Genies

Der Frühling 1979 war in Lwiw schmerzhaft und unruhig. Erst nach vielen Jahren begann man zu verstehen, was man damals alles überlebt hatte. Die Tiefe der Tragödie wurde mit der Zeit nur noch stärker. Am Mittag des 24. Aprils verschwand der berühmte Komponist und Autor legendärer Lieder Wolodymyr Iwasjuk neben dem Konservatorium im Zentrum der Stadt. Einigen Quellen zufolge wurde er gegen seinen Willen von den Geheimdiensten in ein Auto gesteckt, das in unbekannte Richtung verschwand. Nach diesem Vorfall taten entsprechende Straforgane so, als ob sie nach dem Verschwundenen suchten, ihn aber im Laufe des ganzen Monats nicht fi nden konnten. Wie stark auch die damalige lügnerische kommunistische Regierung die Wahrheit vor dem Volk zu verheimlichen suchte, wussten doch alle, was passiert war. Erst am 18. Mai wurde die Leiche von Wolodymyr Iwasjuk im Wald von Bruchoweckyj bei Lwiw auf dem Territorium einer militärischen Einheit erhängt gefunden. Obwohl der Abschied von dem berühmten Komponisten im Geheimen abgehalten wurde, versammelten sich, wie der Vater des Komponisten Mychajlo Iwasjuk berichtete, „mehr als fünfzigtausend Menschen“ zur Beerdigung am 22. Mai (bedenken Sie, das war der Tag, an dem einst auch Taras Schewtschenkos Umbettung stattfand). Diese Menschenmenge transformierte sich in einen stillen, großen Protest, welchen das lügnerische Sowjetsystem bisher nicht gekannt hatte. Ein Protest gegen die Ermordung des berühmten Künstlers, gegen die Willkür der Parteibeamten mit dem Generalsekretär Brezhnjew an der Spitze, die glaubten, es wäre ihnen alles erlaubt.

Aus dem Ukrainischen von Iryna Lelyk, Oksana Molderf

Lasaruk, Myroslaw: „Wazhkyj posah henija“. [Schwere Aussteuer des Genies]. In: Ders.: Monoloh pered oblytschtschjam syna [Monolog vor dem Antlitz des Sohnes]. Zoloti lytawry: Tscherniwci 2000, S. 4.

Lwiwer Fernseherfabrik. Unbekannter Autor. Foto, um 1960