Der Rynok-Platz

Rynok-Platz, Nordseite. Yuriy Dyachyshyn/ Depositphotos.com. Foto, 2017

Der Marktplatz, ein rechteckiger Platz im Zentrum von Lwiw, bildet das historische Herz der Stadt. Die heutige Gestaltung des Platzes wurde noch im 14. Jahrhundert entwickelt. Lange Zeit war der Marktplatz das Zentrum von politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und revolutionären Ereignissen. In der Mitte des Marktplatzes erhebt sich das Lwiwer Rathaus, das auf das 19. Jahrhundert zurückgeht. Rund um den Platz sind heute ungefähr 40 architektonisch unterschiedliche und einzigartige Bauwerke aus der Zeit zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert zu sehen.


Jurij Wynnytschuk.
Todestango

Im Laufe eines Tages verändert die Stadt ihr Gesicht bis zur Unkenntlichkeit. Bei Tagesanbruch, wenn sie noch vor sich hin dämmert, kommen die mit Gemüse beladenen Fuhrwerke auf den Markt. Andere Fuhrwerke poltern über das Pflaster und fahren Bierfässer und verschiedene Waren aus. In Kürze bimmeln die Glocken der ersten Straßenbahnen, die Fiaker klappern, die Rutenbesen rascheln. Ab sieben Uhr erscheinen auf den Straßen die Schüler, die sich zu ihren Schulen beeilen. Nun wacht die Stadt völlig auf – die Fensterläden fangen an zu knallen, in Geschäften klirren die Rollos, in Häusern öff nen sich die Fenster. Bald ertönen in der Stadt hunderte Stimmen, und ganz Lwiw hallt von diesen Stimmen wider, – die Brezelverkäuferinnen rufen: „Brezeln! Brezeln!“, die jüdischen Händler von gebrauchter Kleidung schreien: „Handele! Handele! Ich verkaufe – Sie kaufen!“, die huzulischen1 und lemkischen2 Geschirrflicker3, ganz mit Draht und Mausefallen behängt, spazieren durch die Straßen und rufen: „Tassen flicken! Gibt’s was zu flicken?“, und die Fassbinder: „Gibt’s was zu binden?“, und die Sandverkäufer: „Brauchen Sie Sand? Der beste Sand nur für Sie! Sa-a-a-and!“, und die Wäschehändler: „Wä-ä-ä-äsche!“. Neben dem Wiener Kaffeehaus, wo sich die gemeinsame Station verschiedener Straßenbahnlinien befindet, gibt es immer viele Menschen – einige warten auf ihre Straßenbahn, andere beeilen sich irgendwohin oder stehen herum und halten Maulaffen feil. In der Nähe werden am Feuer geröstete Sonnenblumen und Kürbiskerne verkauft. Die Jüdinnen bieten heiße geröstete Maronen, Wal- und türkische Haselnüsse zum Kauf an, die in eine Tüte aus Zeitungspapier gefüllt werden, und just an dieser Stelle rösten die Verkäuferinnen diese Maronen auf einem Blech mit Vertiefungen und Löchern, das noch mit einem anderen eisernen Deckel bedeckt ist, und ganz unten steht eine Metallkiste mit glimmender Kohle. Die Jüdinnen schreien aus vollem Halse: “Heiße Maronen! Gebratene! Frische!” und diejenigen, die mit heißen Bohnen handeln, rufen: “Heiße Bohnen!”. Die Brezelverkäuferinnen tragen vor sich große Körbe, die an ihren Gürteln befestigt sind und aus denen die Stäbe mit aufgefädelten frischen, appetitlich duftenden Brezeln herausstecken. Einige Brezeln sind mit Mohn, andere mit Salz bestreut, am beliebtesten sind aber die „Maibrezeln“ – goldgelbe, knusprige, dicht mit Salz und Mohn bestreute Brezeln, die auf der Zunge zergehen. Die Juden wiederum handeln mit Eierbrezeln, wobei sie auf Polnisch rufen: „Precle na jajach!“4. Aber wenn die jüdischen Brezelverkäufer den Ukrainern begegnen, versuchen sie diesen Ausruf zu übersetzen und bringen damit die ukrainischen Kunden zum Lachen, weil wegen ihres schlechten Ukrainisch statt „Eierbrezeln!“ „Brezeln auf Eiern!“ entsteht. Auch wir neckten sie gerne und schrien: „Brezeln auf Eiern! Brezeln auf Eiern!“ oder „Eier auf Brezeln! Eier auf Brezeln!“. Die schnurrbärtigen Männer aus dem Dorf Kortschew in Podlachien5 tragen Körbe mit Zwiebeln direkt auf dem Kopf über ihrer Schaff ellmütze. Die Zwiebelkränze hängen sowohl vom Korb, als auch von den Schultern des Händlers herab und fallen ihm über die Brust, auch vom Gürtel hängen die Zwiebeln herunter und der Mann gleicht einem Märchenwesen in goldenen Girlanden. Seine exotische Gestalt löst Bewunderung und zugleich Angst bei den Kindern aus, die ihm mit lautem „Zwiebelmann! Zwiebelmann!“ folgen und sofort auseinanderrennen, sobald er ihnen einen wütenden Blick zuwirft. „Da kommt zu dir der Zwiebelmann und nimmt dich mit“, ängstigen die Mütter ihre ungehorsamen Kinder. Auch meine Mama zeigte mir oft aus dem Fenster den Zwiebelmann und sagte, dass er einen kleinen Schlingel in einen Zwiebelkranz umwandeln könne. Und wenn sie einen Zwiebelkranz beim Zwiebelmann gekauft und ihn in der Küche an die Wand gehängt hatte, schaute ich immer ängstlich auf ihn und dachte dabei, wer war dieser ungehorsame Junge, der in eine Zwiebel umgewandelt worden ist, und ob aus dieser Zwiebel das Blut spritzen würde, falls man davon ein Stück abbeiße. Deshalb aß ich die Zwiebeln nie roh und bat auch meine Mama, sie in Ruhe zu assen. Man weiß ja nie. Es kann passieren, dass sich der Bann irgendwann löst und sich der Zwiebelkranz wieder in einen Jungen umwandelt, aber dann wird er ein Körperbehinderter – ohne Bein oder Arm, ohne Auge oder Ohr, jedenfalls wird seine Körperbehinderung unser Gewissen beschweren. Meine Mama wollte mir aber nicht zuhören und schnitt tapfer die Zwiebeln in Scheiben für Salat.

Die Töpfer, mit klirrenden Girlanden aus Töpfen und Milchkrügen behängt, schreien: „Töpfe! Garnki!6 Schüsseln! Flicken! Drotowac!7“, die Bürstenmacher handeln mit verschiedenartigen Bürsten, die Mattenmacher – mit Stroh- und Rohrmatten, die die Hausfrauen gerne vor die Tür legen, die Siebmacher verkaufen die Siebe, da dieses Erzeugnis leicht ist, behängt sich der Siebmacher mit allen diesen Sieben und Siebchen so, dass er selbst kaum zu sehen ist. Die Geflügelhändler tragen auf den hohen Stäben Käfige mit Vögelchen, die Kohlenhändler fahren mit den Fuhrwerken die Kohle aus und rufen: „Ko-o-o-ohle! Ko-o-o-ohle!“, die Wasserführer liefern jeden Morgen Wasser in Fässern aus, der Briefträger stellt Postsendungen in einem gedeckten gelben Wägelchen zu und spielt dabei auf einem kleinen Horn immer wieder die gleiche Melodie, der Eismann kündigt seine Ankunft mit einem Glöckchen an und nach diesem Klang rennen alle Dienerinnen und Hausfrauen hinaus, mit Becken und Trögen in den Händen, in die der Eismann dann geschnittene Eisstücke hineinlegt, der Sandverkäufer bietet Sand an und ruft „Sa-a-a-and! Sa-a-a-and!“, den die Hausfrauen zum Scheuern der Töpfe verwenden und mit dem sie den Fußboden und die Treppen bestreuen, damit sie schneller trocknen […].

1 Die Huzulen sind eine ethnische Gruppe der Ukrainer, die die Bergregionen der westlichen Gebiete der Ukraine bewohnt.

2 Die Lemken sind eine in den Ostbeskiden ansässige ethnische Gruppe der Ukrainer.

3 Der Geschirrflicker war früher ein Meister, der zerschlagenes Tongeschirr mit Draht wieder zusammenfügte, d.h. reparierte. Heute gehört dieser Beruf zu den ausgestorbenen Handwerken.

4 „Precle na jajach“ aus dem Polnischen „Eierbrezeln“.

5 Podlachien ist ein historisch-ethnographisches Gebiet im Osten Polens zwischen dem Westlichen Bug und der Memel. Heute gehört diese historische Landschaft zu den zwei polnischen Woiwodschaften Podlachien und Lublin.

6 Garnki“ aus dem Polnischen „die Töpfe”.

7 „Drotowac” aus dem Polnischen „flicken”.

Aus dem Ukrainischen von Khrystyna Horitschko, Khrystyna Dyakiv

Wynnytschuk, Jurij: Tanho smerti [Todestango]. Folio: Charkiw 2012, S. 42 ff .

Rynok-Platz, Südseite. Dmitry Berkut / Depositphotos.com. Foto, 2015