Der Swoboda-Boulevard

Swoboda-Boulevard ist seit Ende des 18. Jahrhunderts die Hauptstraße der Stadt. Bis zu dieser Zeit befand sich hier der untere westliche Teil der Befestigungsanlagen. Im 19. Jahrhundert, als Lemberg zur Hauptstadt eines der österreichisch-ungarischen Kronländer wurde, entstand hier ein Boulevard mit einer geraden Pappelreihe und einer im Zentrum angelegten Allee. Den Boulevard säumten vornehme Hotels, Spielkasinos, Banken, teure Geschäfte und prächtige Renditenhäuser. Je nach politischer Situation in der Stadt wurde die Hauptstraße im Lauf der Geschichte mehrmals umbenannt: Karl-Ludwig-Straße, Legionen-Straße, Wały Hetmańskie, Lenin-Prospekt. Der Boulevard ist eine der schönsten Straßen der Stadt, deren Architektur Züge von Jugendstil, Eklektizismus, Klassizismus, Neorenaissance und Barock verbindet. In der Mitte des Boulevards erhebt sich das Schewtschenko-Denkmal mit der zwölf Meter hohen Stele „Welle der nationalen Wiedergeburt“.

Swoboda-Boulevard (Wały Hetmańskie). М. Munz. Foto, 1925

Mychajlo Jaworskyj.
Der Löwenkuss

Ich mag es, durch die Strassen der Stadt zu bummeln. Jedes Mal erfassen meine Augen etwas Einzigartiges. Ich erinnere mich daran, wie sehr mich das Jan-Sobieski-Denkmal beeindruckte. Das Denkmal wurde im November 1898 auf den Hetmanski Waly (seit 1990 der Swoboda-Boulevard) feierlich enthüllt.

1950 wurde der „Lwiwer Hetman“ nach Polen gebracht. Wenn ich diese Gestalt mit hoch erhobener Keule auf ihrem Pferde, jeden Augenblick bereit, sich in die Schlacht zu werfen, betrachtete, war es mir, als versetzte es mich in die Zeit, als Sobieski Wien vor der türkischen Armee rettete. Am Denkmal war eine Aufschrift angebracht, die ich einmal in meinem Geschichtslehrbuch sah: „veni, vidi, vici“ – „Ich kam, sah und siegte“.

Aber am stärksten überraschte mich, was ich weiter oben, über dem Kopf von Sobieski erblickte. Dort auf dem Vorbau, unter dem Dach des Hauses an der Ecke saß eine Kopie der Freiheitsstatue. Wie sie in die Stadt der Löwen geraten ist, war für mich ein Rätsel. Es war, als fühlte sie sich nicht wohl in ihrer Haut. Denn im Gegensatz zu ihrer amerikanischen Schwester, die stolz mit der Fackel in der Hand aufrecht dastand, saß diese. Wahrscheinlich entkräftet von einer langen Reise oder des Haltens der Fackel müde.

Aus dem Ukrainischen von Tetjana Sopila, Tetyana Lyashenko

Jaworskyj, Mychajlo: Pocilunok lewa (awtobiohrafi tschnyj roman) [Der Löwenkuss
(autobiographischer Roman)]. Piramida: Lwiw 2006, S. 7.


Joseph Roth.
Reise durch Galizien. Leute und Gegend

Die Hauptstrasse hiess einmal „Karl-Ludwig-Strasse“, aus Loyalität gegenüber dem Herrscherhause. Heute heißt sie die „Straße der Legionen“. Es sind die polnischen Legionen gemeint. Hier war einmal der Korso der österreichischen Offiziere. Heute spazieren die polnischen Offiziere. Hier hörte man immer Deutsch, Polnisch, Ruthenisch. Man spricht heute Polnisch, Deutsch, Ruthenisch. In der Nähe des Theaters, das am unteren Ende die Straße abgrenzt, sprechen die Menschen Jiddisch. Immer sprachen sie so in dieser Gegend. Sie werden wahrscheinlich niemals anders reden.

Roth, Joseph: „Lemberg. Die Stadt“. In: Alois Woldan (Hrsg.): Europa erlesen: Lemberg.
Wieser Verlag: Klagenfurt 2008, S. 143.