Die Atmosphäre der Stadt

Wenn man sich selber oder jemanden anderen fragt, was genau die besondere Lwiwer Atmosphäre schafft, die jeden bezaubert und dazu zwingt, sich für immer und ewig in diese Stadt zu verlieben, kann man diese Frage sicher nicht eindeutig beantworten. Denn Lwiw ist eine Kombination aus mehreren Komponenten, die je nach Geschmack ganz beliebig miteinander verknüpft werden können. Starker Kaffeeduft, bezaubernde Jazz-Musik, süße Schokolade, bitteres Bier, feurige Salsa, nasses Pflaster, gemütliche Kneipen, eine stolze Oper – diese Liste könnte man unendlich weiterführen. Wichtig ist aber, dass jeder das in seinen Topf hineingibt, was auf ihn besonderen Eindruck macht. Gewürzt wird alles in jedem Falle mit der besonderen Lwiwer Gastfreundlichkeit und dem Charme der Stadt und ihrer Bewohner.

Im Lwiwer Kaffehaus. Vasyl Chornyy / Depositphotos.com. Foto, 2017

Jurij Andruchowytsch.
Das Geheimnis. Anstatt eines Romans

Zum Glück befand sich unser polygraphisches Institut, oder wie wir es üblicherweise nannten Polygraf, in der Altstadt, in der Pidwalna-Straße, ganz in der Nähe von der Armenischen, Ruthenischen, Serbischen und Altjüdischen Gasse und dem Marktplatz – das reinste Mittelalter. Du gehst an diesen halbtoten Mauern voller Risse vorbei, deine Absätze klappern, die Rüstung klirrt, der Mantel flattert und der Degen… na, was macht er?

Der Degen schlägt gegen die Steine, so dass Funken entstehen… Kann sein! Und es tönt in dir die ganze Zeit etwas zwischen Bach und Emerson. Ja, das war genau sie: die Stadt, die ganz gut zu der Musik passte, die ich damals gern hörte […]. Ha, ich werde nie vergessen, wie mir eines Tages mein Kollege erzählte, wie er gerade durch die Altstadt gegangen sei, und diese wäre absolut tot – nur er allein und niemand sonst. Und da hört er plötzlich – wahrscheinlich ist in jemandes Küche das Fenster ein wenig aufgemacht – das Läuten, das heißt das Klirren des Löffels im Glas. Kannst du dir vorstellen? Jemand tut Zucker in seinen Tee und rührt ihn, indem er mit dem Löffel klirrt. Und das kann man in allen naheliegenden Vierteln hören; er geht weg, dreihundert Meter, fünfhundert Meter, aber er hört immer noch dieses Klirren. Für mich ist in solchen Dingen, verdammt, das ganze Lwiw! Es hat wirklich eine besondere Akustik. Lwiw – das ist die Akustik, das ist Audio, nicht Video.

Aus dem Ukrainischen von Natalja Palamar

Andruchowytsch, Jurij: Tajemnycja. Zamist romanu [Das Geheimnis. Anstatt eines Romans].
Folio: Charkiw 2007, S. 81 f.


Joseph Roth.
Reise durch Galizien

[…] Hier hörte man immer Deutsch, Polnisch, Ruthenisch. Man spricht heute Polnisch, Deutsch und Ruthenisch. In der Nähe des Theaters, das am unteren Ende die Straße abgrenzt, sprechen die Menschen Jiddisch. Immer sprachen sie so in dieser Gegend. Sie werden wahrscheinlich niemals anders sprechen. Gegen diese Vielsprachigkeit wehrt sich das neugestärkte, durch die jüngste Entwicklung der Geschichte gewissermaßen bestätigte polnische Nationalbewußtsein – mit Unrecht. Junge und kleine Nationen sind empfindlich. Große sind es manchmal auch. Nationale und sprachliche Einheitlichkeit kann eine Stärke sein, nationale und sprachliche Vielfältigkeit ist es immer. In diesem Sinn ist Lemberg eine Bereicherung des polnischen Staates. Es ist ein bunter Fleck im Osten Europas, dort, wo es noch lange nicht anfängt, bunt zu werden. […] Diese Buntheit schreit nicht, blendet nicht, macht kein Aufsehen, ist nicht um ihrer selbst willen da, wie die Buntheit balkanisch-orientalischer Städte, wie die Budapester zum Beispiel, das balkanischer ist als der Balkan. […] Die Stadt demokratisiert, vereinfacht, vermenschlicht, und es scheint, daß diese Eigenschaft mit ihren kosmopolitischen Neigungen zusammenhängt. Die Tendenz ins Weite ist immer gleichzeitig ein Wille zur selbstverständlichen Sachlichkeit. Man kann nicht feierlich sein, wenn man vielfältig ist. Sakrales selbst wird hier populär. Die großen alten Kirchen treten aus der Reserve ihres heiligen Zwecks und mischen sich unter das Volk. Und das Volk ist gläubig. Neben der großen Synagoge blüht der jüdische Straßenhandel. An ihren Mauern lehnen die Händler. Vor den Kirchenportalen hocken die Bettler. Wenn der liebe Gott nach Lemberg käme, er ginge zu Fuß durch die „Straße der Legionen“.

Roth, Joseph: „Reise durch Galizien“. In: Simon, Hermann / Stratenwerth, Irene / Hinrichs, Ronald (Hrsg.): Lemberg. Eine Reise nach Europa. Ch. Links Verlag: Berlin 2007, S. 43 ff.