Lwiw war von Anfang an vom Ersten Weltkrieg betroffen. Die Kriegsereignisse brachten einen ständigen Machtwechsel in der Stadt mit sich. Im September 1914 marschierten russische Truppen in die Stadt ein. Im April des darauffolgenden Jahres geriet Lwiw wieder unter österreichische Herrschaft. Die Monarchie wurde aber immer schwächer und die Ukrainer nutzten die Situation, um die Macht in der Stadt zu ergreifen. Die Unabhängigkeit der Westukrainischen Volksrepublik wurde erklärt, aber der neu gegründete Staat existierte weniger als einen Tag – die Polen trieben die ukrainischen Truppen aus der Stadt und wurden zu den neuen Machthabern. Schließlich wurde Lwiw der Zweiten Polnischen Republik angeschlossen und blieb bis 1939 Teil dieser Republik.

- Iwan Franko. Lwiw und Wynnnyky am 1.–3. September 1914
- Andrij Sodomora. Uno, due, tré…
- Jaroslaw Hrycak. Vorwort eines Historikers
Iwan Franko.
Lwiw und Wynnnyky am 1.–3. September 1914
Die Russen waren etwas zage,
Denn Lemberg hatte Hügellage.
Grade dort, wo Deutsche leben,
Würde eine Schlacht es geben.
Glücklich ist er nicht, der Zar und Herr,
hundert Kanonen oder mehr,
zweihunderttausend Mann in Waffen
Muss er zum Kampf vor Lwiw hinschaffen.
Wie zwecklos diese Angst doch war,
In Lemberg war’n nur Polen da,
Korytowskis anstatt Thun, –
Jetzt den Russen lacht Fortun.
Ihren Weg machten die Männer,
Geführt von einem Wegekenner.
Es gab Schlachten bei Janiw,
Aber keine gab’s um Lwiw.
[…]
Wynnyky der Erde gleich,
Zogen sie nach Lwów sogleich,
Pfeifen und Zigarren pafften,
Und zum Spaß gemeinsam blafften.
„Für Wynnyky ist Blut geronnen,
Lwiw ham wir umsonst bekommen“,
So sangen sie in Lwiw hienieden,
Und fanden ihren Seelenfrieden.
Aus dem Ukrainischen von Oksana Molderf
Franko, Iwan: „Lwiw i Wynnyky w dnjach 1–3 weresnja 1914 r“. [Lwiw und Wynnnyky am 1.–3. September 1914]. In: Ders.: Dodatkowyj tom do zibrannja tworiw u 50-ty tomach. [Extraband zu sämtlichen Werken in 50 Bänden]. Band 52. Naukowa dumka: Kyjiw 2008, S. 221 f.
Andrij Sodomora.
Uno, due, tré…
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich rechnen gelernt habe, wann ich zum ersten Mal die Worte „eins, zwei, drei…“ aussprach, sehr gut aber habe ich mir das italienische uno, due, tré gemerkt… Wenn ich diese Zahlen ausspreche, sehe ich auch heute noch die Reihe der auf dem Tisch aufgestellten Zinnsoldaten vor mir. Ich höre, wie sie einer nach dem anderen auf den Tisch fallen. Uno – der erste ist umgefallen… Due – der zweite… So lange, bis auch der letzte gefallen ist. Ich kann mich nicht erinnern, wie viele Zinnsoldaten es gab – bis zu welcher Zahl ich zu zählen hatte. „Krieg ist Krieg“, – sagte Onkel Mychajlo jedes Mal, den nächsten Soldaten berührend. Dann fing alles von Neuem an: uno, due, tré.
Onkel Mychajlo, Kirchensänger, oder Regent, wie man ihn bei uns nannte, von Beruf, war im Ersten Weltkrieg an der italienischen Front gewesen. Häufig kam er bei uns vorbei. Er setzte mich zu sich auf die Bank und lehrte mich, italienisch zu zählen. Ich kann mich an keines jener Kriegsabenteuer erinnern, von denen Onkel Mychajlo erzählte – meine ganze Aufmerksamkeit, mein ganzes Wesen war von den Zinnsoldaten gefesselt. Der Tisch wurde zum Schlachtfeld, die Zinnsoldaten zu lebendigen Menschen, die ihr Schicksal erwarteten. Es war schade, dass sie fallen mussten. Aber dazu, erklärte Onkel Mychajlo, sind sie Zinnsoldaten, dazu dient der Krieg. […]
Es war also eine Eins, dann eine Zwei, später – durch eine Kette von Verschiebungen und Umwandlungen – die Erde, darauf die Menschen, darunter auch Onkel Mychajlo… Ich kann mich nicht an seine Geschichten über den Ersten Weltkrieg und kaum an sein Aussehen erinnern. Denn meine gesamte Aufmerksamkeit war von den Zinnsoldaten gefesselt, ich war vollkommen in der Welt jener italienischen Wörter. Oder doch: Ohne mich seiner Gesichtszüge erinnern zu können, vermag ich mich an die innere Gestalt von Onkel Mychajlo zu erinnern – seine Seele, seine weiche Stimme, etwas, das ein lebendiger Teil jener vergessenen Stimmung ist. Erhalten geblieben ist freilich sein Foto. Onkel Mychajlo steht vor einer alten, mit der Zeit verwitterten kleinen Kirche, etwas nach vorne gebückt, wie man es bei starkem Gegenwind macht – man sieht seine Gestalt allein, daneben ein Baum mit wenigen Blättern – vermutlich ist die Aufnahme im Herbst entstanden. Seit langem gibt es weder jene kleine Kirche, noch den Baum. Es gibt keinen Onkel Mychajlo mehr. Aber nicht nur das. Ich finde nicht einmal das Kreuz auf dem Friedhof – die alte Begräbnisstätte ist eingeebnet und Gras wächst auf ihr…
Wenn ich im Dorf bin, gehe ich auf jenen Friedhof. Ich spüre ein Verlangen, auch den Teil zu durchstreifen, wo es keine Kreuze mehr gibt. Dort vernehme ich die Stimme von Onkel Mychajlo: „Krieg ist Krieg… Viele Menschen sind gefallen…“ Dann scheint es mir, dass unter jenen Zinnsoldaten Onkel Mychajlo selbst war. Ein alter Philosoph hat einmal gesagt: „Leben heißt kämpfen“. Die unsichtbare Hand der Zeit berührt den Menschen. Dann das Kreuz auf dem Grab. So ist es kein Wunder, dass die Kreuze auf den alten Friedhöfen so selten und so verfallen sind – man kann sie mit den Fingern einer Hand zählen: uno, due, tré… Es ist wirklich so: Zahlwörter sind Schweigen, Unzählbarkeit, Ewigkeit…
Aus dem Ukrainischen von Alla Paslawska, Tobias Vogel
Sodomora, Andrij: „Uno, due, tré…“ In: Paslawska, Alla / Vogel, Tobias / Kamianets, Wolodymyr (Hrsg.): Galizien. Aus dem Großen Krieg. VNTL–Klasyka: Lwiw 2014, S. 274 f.
Jaroslaw Hrycak.
Vorwort eines Historikers
Es versteht sich von selbst, dass Krieg immer Krieg ist. Und damit waren natürlich auch die Kriegsereignisse an der Ostfront von großen Verlusten unter Soldaten und ziviler Bevölkerung begleitet. Was Galizien betriff t, so hat sich nach meiner Kenntnis leider niemand mit der genauen Einschätzung dieser Verluste beschäftigt. Eine zehn Jahre nach dem Krieg unter ukrainischen Schülern durchgeführte Umfrage bietet ein ungefähres Bild dessen, was der Krieg für die zivile Bevölkerung bedeutete: Sie erinnerten sich daran, dass der Feind mit dem Gewehrkolben den Freund erschlug, dass der Bruder zur Erschießung gebracht wurde, dass die Feinde vor ihren Augen die ältere Schwester vergewaltigten, ferner fielen ihnen viele sterbende Menschen und Leichen auf dem Kampffeld ein. Zu diesen mit dem Krieg unmittelbar verbundenen Verlusten und Grausamkeiten müssen hunderttausende gebrochene Menschenschicksale hinzugefügt werden, die durch Verhaftungen, Zwangsaussiedlung, Flucht vor dem Feind usw. verursacht wurden. Die österreichisch-ungarische Armee suchte nach den Ursachen oder eher nach der Rechtfertigung ihrer unehrenhaften Niederlage in Galizien in den ersten Tagen des Krieges.
Zum Sündenbock wurden dabei meistens die hiesigen Ruthenen (Ukrainer) und Juden, die zugunsten der russischen Armee spioniert hätten, gemacht. Verhaftungen und Hinrichtungen nach Urteilen von Standgerichten, sowie Pogrome, die ungarische Truppen unternahmen, gehörten für galizische Ruthenen und Juden zu den tragischsten Momenten des Ersten Weltkrieges. Zum Symbol anti-ruthenischer Repressionen wurde das k.u.k. Interniertenlager Talerhof bei Graz, in dem zwischen September 1914 und Mai 1917 etwa 20 000 galizische Ruthenen interniert wurden. Diese beiden Gruppen – Juden und Ruthenen – waren auch die Hauptleidtragenden von Repressionen seitens des russischen Besatzungsregimes in Galizien, dessen Verhalten sogar in Petersburg als „europäischer Skandal“ bezeichnet wurde.
Aus dem Ukrainischen von Alla Paslawska und Tobias Vogel
Hrycak, Jaroslaw: „Vorwort eines Historikers“. In: Paslawska, Alla / Vogel, Tobias / Kamianets, Wolodymyr (Hrsg.): Galizien. Aus dem Großen Krieg. VNTL–Klasyka: Lwiw 2014, S. 22 f.