Lwiw in der unabhängigen Ukraine (seit 1991)

Ukrainische Fahne auf dem Rathaus von Lwiw.
Oleksandr Pakhay / Depositphotos.com. Foto, 2017

In der unabhängigen Ukraine bleibt Lwiw das geistige, kulturelle und touristische Zentrum. Es hat 730 000 Einwohner (2016), über 100 Kirchen und 20 Konfessionen. Seit 1998 steht Lwiw auf der UNESCO-Welterbe-Liste. 1999 fand hier das Gipfeltreffen von neun ost- und mitteleuropäischen Staats- und Regierungschefs statt. 2001 besuchte Papst Johannes Paul II. die Stadt. An dem von ihm abgehaltenen Gottesdienst auf der Lwiwer Rennbahn beteiligten sich 1,5 Millionen Menschen. 2009 bekam Lwiw den Titel der Kulturhauptstadt der Ukraine. 2012 war Lwiw eine der Gastgeberstädte der Fußball-Europameisterschaft. Die Stadt besitzt die meisten historischen und architektonischen Denkmäler (2500) in der Ukraine und fast 60 Museen. Jedes Jahr finden hier über 100 musikalische, gastronomische und konfessionelle Festivals statt. Lwiw hat 24 Hochschulen, jeder fünfte Einwohner in Lwiw ist Student. Die Lwiwer Buchmesse ist zu einem landesübergreifenden Ereignis geworden. Sobald die Unabhängigkeit des Landes gefährdet war, setzten sich Lwiw und seine Bürger sofort für die Ukraine ein. So war das 2004 während der Orangenen Revolution und so bleibt es auch heute, wenn das Land der russischen Aggression im Osten der Ukraine widerstehen muss. Viele Entscheidungen, die für die weitere Entwicklung der Ukraine ausschlaggebend sind, werden oft in Lwiw, in der Stadtmitte, auf dem Swoboda-Boulevard in aller Öffentlichkeit getroffen.


Taras Woznjak.
Warum gerade Lwiw

In der Geschichte der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung hat die Stadt des Öfteren eine Schlüsselrolle gespielt. Nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine ist Lwiw jedoch in eine Pattstellung geraten. Die politischen Führer konzentrieren ihre Aufmerksamkeit auf gesamtukrainische Angelegenheiten, das demokratische und nationale Establishment ist nach Kiew abgewandert. In der Praxis hat sich kaum jemand mit Lwiw und seiner Region befasst. Die demokratisch-nationalen und später auch die postnationalen Politiker sahen in Galizien ein stets zuverlässiges Hinterland, gut genug um noch ein zusätzliches Abgeordnetenmandat zu erringen. Die Folge davon ist, dass sowohl die Stadt wie auch die Region allmählich degradierten, in wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Hinsicht.

Die Ukraine und auch Lwiw sind nicht Zentrum eines stagnierenden Raums, sondern an dessen Peripherie gerückt. Das wirkliche Zentrum des postsowjetischen Wirtschaftsraums ist Moskau, das alle Ressourcen an sich zieht. Der Ukraine mangelte es an politischen Konzepten wie auch an Energie, um sich aus der Anziehungskraft der ehemaligen Metropole zu befreien. Die Ukraine hat auch nicht in den neu geschaffenen, dynamischen Wirtschaftsraum der Europäischen Union Eingang gefunden, und selbst die Beziehungen zu ihm sind nicht sehr gut entwickelt. Deshalb braucht man sich auch nicht über die Konzentration russischen Kapitals in der ganzen Ukraine zu wundern, dieses fließt auf ganz natürliche Weise dorthin, denn die Ukraine befindet sich im Anziehungsbereich Moskaus, ob es uns Ukrainern gefällt oder nicht.

Einer Stadt wie Lwiw, die, einst in der wirtschaftlichen Welt Mitteleuropas verankert, seit 1939 und bis heute aber einem eurasiatischen Wirtschaftsraum angehört, kommt dabei eine besondere Rolle zu. Auch im 19. Jahrhundert lag diese Stadt an einer Grenze, an einer Peripherie im administrativen wie auch im wirtschaftlichen Sinn. Vielleicht liegt gerade darin ihre Chance heute.

Erstaunlicherweise lagen viele Städte, die Zentren von historischen Wirtschaftsräumen bildeten, an deren Grenzen. Zu solchen Grenzstädten gehören Venedig und Genua, Antwerpen und Amsterdam. Mehr noch, auch ein Zentrum der Weltwirtschaft wie New York, ist eine Grenzstadt, ein Ort, an dem jeder sich mit jedem trifft und alles mit allem sich vermischt. Vielleicht liegt gerade darin eine der Ursachen für seine fulminante Karriere?

Die Ukraine und Lwiw im Besonderen liegen an der Grenze zwischen dem postsowjetischen Raum und der Europäischen Union. Die einzige Chance der Stadt und der Region besteht darin, das Zentrum dieser Grenzregion zu werden. Es mangelt uns jedoch an der Bereitschaft die eigene Marginalität zu akzeptieren, um dann endlich unsere Mittlerfunktion zu verwirklichen.

Was ist dazu nötig? Zuallererst – eine genaue Formulierung der Aufgabe. Wir Ukrainer müssen uns von der Illusion verabschieden, das Zentrum eines bedeutenden selbstständigen Wirtschaftsraums zu werden, dafür fehlen die nötigen Ressourcen. Wir müssen die Vorteile der Grenzlage nützen. Darin steckt allerdings eine ganze Reihe von Widersprüchen, denen wir uns nicht bewusst sind.

Der erste Widerspruch besteht zwischen der Stadt und dem Staat. In alten Zeiten waren die Städte, nicht aber die Staaten oder Reiche, die Inseln des Fortschritts und der Freiheit. Sie trieben mit dem Staat ein raffi niertes Spiel, existierten unter seinem Schutz und genossen dennoch eine ziemliche Freiheit. So auch Lemberg unter der Obhut der polnischen Adelsrepublik. Dort jedoch, wo die Staaten stark und mächtig waren, wie etwa in Frankreich oder Spanien, entwickelten sich die Städte nur langsam, ausgenommen die Hauptstädte, welche Verwaltungsmaschinen, dem heutigen Kiew vergleichbar, aber keine freien Städte waren. Es mag paradox klingen, aber heute hemmt der ukrainische Staat aufgrund einer unterentwickelten Selbstverwaltung und aus dem Bedürfnis nach einer vermehrten Zentralisierung und einer entsprechend gestärkten Administration unbewusst aber doch die Entwicklung der Städte, darunter auch Lwiw. Und dann stehen wir, mit all unserem Patriotismus, vor der Wahl: entweder der ukrainische Staat, so wie er ist, mit allen seinen Mängeln, postsowjetischen Überbleibseln und Wachstumskrankheiten, oder die Perspektive unserer Stadt, die an der Peripherie eines postsowjetischen ökonomischen, politischen und kulturellen Raums versinkt, jedoch noch immer nicht voll ihre Grenzlage ausnutzt.

Das Zentrum bremst auch deswegen, weil Geld und Kapital wie überall in der postsowjetischen Wirtschaft nicht nur eine rein ökonomische, sondern auch administrative Funktion haben. Deshalb gibt es keine Städte, die von Abhängigkeit frei und von Geldern der Administratoren sauber sind. Praktisch besteht unsere ganze „Bourgeoisie“ aus Zwischenhändlern und erfüllt alles Kapital eine vermittelnde Funktion. Lwiw ist nun einmal kein so bedeutendes Zentrum wie Donezk oder Dnipropetrowsk, woher also solche administrative Ressourcen nehmen?

Der zweite Widerspruch besteht zwischen der Stadt als einer „Maschine der beschleunigten Zivilisation“ und der traditionell rustikalen ukrainischen Gesellschaft, die die Dynamik dieses Apparats bremst. Eine Konzentration von bäuerlichen Elementen passt nicht in das Erscheinungsbild einer modernen Stadt. Wenn die Stadt auch des Zuzugs neuer Bevölkerungsschichten bedarf, so muss sie doch imstande sein diese in ihre städtische Sozialstruktur zu integrieren und darf nicht umgekehrt diese davon aufl ösen lassen. Sonst besteht immer die Gefahr, dass nicht ein „Freiburg“, sondern ein „Freidorf “ entsteht. Die Stadt als ein effektiver „Lebensapparat“ wie auch als eine konsolidierte „Bürgerschaft“ kann sich nicht entfalten, und eine „Welt des Terrains“ ist in der Regel nicht imstande die Vision von Stadt zu verwirklichen.

Für Lwiw heute, wenn es als Stadt erfolgreich sein will, ist es wichtig zuallererst eine eigene Vision als „Stadt“ auf einem „Terrain“, das Stadt werden will, zu haben, und sich nicht in diesem aufzulösen. Zwei Jahrhunderte vor Thomas von Aquin hat Alain de Lille gesagt: „Heute ist nicht mehr der Kaiser alles, sondern das Geld“. Wenn man „Geld“ sagt, ist es dasselbe, wie wenn man „Stadt“ sagt. Vielleicht kann man nur auf dieser Grundlage sie einmal mehr erbauen.

Aus dem Ukrainischen von Alois Woldan

Woznjak, Taras: „Warum gerade Lwiw“. Woldan, Alois (Hrsg.): Europa erlesen: Lemberg.
Wieser Verlag: Klagenfurt 2008, S. 55–57.