Lwiw in der Westukrainischen Volksrepublik 1918

Nach dem Zerfall der Habsburger-Monarchie und des zaristischen Russlands wurde am 1. November 1918 die Westukrainische Republik mit der Hauptstadt Lwiw gegründet. Das Territorium der Republik sollte die ethnisch ukrainischen Länder Galizien, Bukowina und Transkarpatien umfassen, die zuvor zu Österreich-Ungarn gehörten und 6 Millionen Einwohner hatten. Die ukrainischen Sitsch-Schützen bildeten die erste reguläre ukrainische militärische Einheit, auf deren Basis im selben Jahr die Ukrainische Galizische Armee entstand. Am 2. November zettelten jedoch die Polen einen Aufstand an, der zunächst zu Straßenkämpfen zwischen Ukrainern und Polen führte und später in den ukrainisch-polnischen Krieg überging. Die Ukrainer mussten am 21. November Lwiw verlassen und die Hauptstadt der Westukrainischen Republik für die anschließenden fünf Monate nach Stanislaw (heute Iwano-Frankiwsk) verlegen. Historische Umstände führten dazu, dass die Bukowina von Rumänien besetzt und Transkarpatien von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges an die Tschechoslowakei übergeben wurde. 1919 besetzten die Polen Galizien und Lwiw wurde Teil der zweiten polnischen Republik.

Militärtechnik auf dem Rynok-Platz. Unbekannter Autor. Foto, 1918

Jaroslaw Hrycak.
Vorwort eines Historikers

In seinem Brief vom 5. Dezember 1969 schrieb Jerzy Giedroyc, der Herausgeber der polnischen Exilzeitschrift „Kultura“ in Paris, an Czesław Miłosz über die Welt, die nach dem Sturz des Kommunismus in Osteuropa entstehen wird:

„Politisch sehen wir uns dem Heranwachsen von nazistischen Nationalismen gegenüber. Das geschieht in der Ukraine und in anderen Republiken, dasselbe gibt es in Polen… Wenn diese Explosion stattfindet, wird sie blind sein, die Menschen werden einander töten, die Probleme von Lwiw, des Friedens von Riga werden akut werden, und in dem Fall sollten wir bereit sein, endgültig unter der Last dieser Katastrophe zugrunde zu gehen“.

Unter dem „Problem von Lwiw“ meinte Giedroyc den polnisch-ukrainischen Krieg um das ehemalige österreichische Galizien und dessen Hauptstadt. Dieser Krieg begann am 1. November 1918, zehn Tage vor dem Ende des Ersten Weltkrieges. Strategisch war der Krieg weder für die Polen noch für die Ukrainer sinnvoll. Ihre strategischen Interessen lagen woanders: Der neue polnische Staat musste mit den Deutschen im Westen zurecht kommen, während sich das Schicksal des ukrainischen Staates weiter im Osten, in Kiew, entschied, wo die Truppen der Ukrainischen Volksrepublik nach dem Abzug der deutschen Besatzungstruppen und der Regierung von Skoropadskyj der russischen Roten und Weißen Armee Widerstand leisten mussten. Die Ukrainer Galiziens bildeten nur 20-25% der ethnisch ukrainischen Bevölkerung. Trotzdem stellten sie eine Armee auf, die zahlenmäßig der Armee der Ukrainischen Volksrepublik ebenbürtig war und sie an militärischer Disziplin und Eff ektivität sogar noch übertraf. Wenn die Ukrainische Galizische Armee statt gegen die Polen um Lwiw zu kämpfen, sich ihren östlichen Brüdern hätte anschließen können, hätten die Bolschewiken weniger Chancen gehabt, Kiew zu erobern. Dementsprechend hätte die Geschichte einen anderen Weg einschlagen können. Aber die Polen und Ukrainer brachten einander lieber im Krieg um Galizien und Lwiw um, als an strategische Interessen zu denken.

Aus dem Ukrainischen von Alla Paslawska und Tobias Vogel

Hrycak, Jaroslaw: „Vorwort eines Historikers“. In: Paslawska, Alla / Vogel, Tobias /
Kamianets, Wolodymyr (Hrsg.): Galizien. Aus dem Großen Krieg.

VNTL–Klasyka: Lwiw 2014, S. 18 f.